Der alte Kirchweg von Offdilln nach Bergebersbach
Reminiszenzen an einen vergessenen Weg
Es kann schon interessant und auch faszinierend sein, wenn man sich einmal der Mühe unterzieht und einen der alten, geschichtsträchtigen Wege entlang wandert, die unsere Vorfahren jahrhundertelang beschritten und befahren haben. Gradlinig und meistens auf kürzester Strecke, wobei auch steile Passagen nicht umgangen wurden, durchliefen sie das Gelände. Fast immer ohne festen Untergrund und einfach in den Boden eingefahren waren diese Wege, die daher an vielen Stellen so tief im Erdreich versanken, dass die Fuhrmänner samt ihren Gespannen regelrecht in der Fahrrinne verschwanden – Hohlwege allesamt.
Auch der alte Kirchweg von Offdilln hinüber nach Berg- und Straßebersbach, im Volksmund „dr aale Keerchewäg oder kurz „dr aale Wäg“ genannt, zählte dazu. Viele Jahrhunderte lang verband er als öffentlicher Weg das obere Dilltal mit dem Ebersbacher Grund. Benutzt wurde er wohl – abgesehen vom stetigen Gebrauch als Fahrweg – hauptsächlich von den Offdillner Kirchgängern, die an den Sonn- und Feiertagen die Gottesdienste in der Bergebersbacher Pfarrkirche besuchten. Ihr Dorf gehörte nämlich eine lange Zeit zum Kirchspiel Bergebersbach.
Auf der rechten oberen Bildhälfte ist noch ein Teil vom schluchtähnlichen “Kehrgrund” zu erkennen, An dessen linker Flanke verlief der “aale Keerchewäg”. Ganz oben rechts der abgetriebene Hauberg ist das “Eckewällche”, an dessen rechter Flanke der Kirchweg steil nach oben kletterte, ehe er ganz rechts am Horizont den passähnlichen 535 m hohen Übergang mit dem “Oarns Stroch” erreichte.
Dieser alte Weg zwingt mich immer wieder aufs neue zum Nachdenken, wenn ich bei einer Wanderung dort vorbeikomme oder ihn begehe. Wer und wie mag es wohl gewesen sein, als diese Strecke das erstemal beschritten wurde, und was war der Anlass dazu? Vielleicht gab es hier anfangs nur einen Wildwechsel, auf dem Hirsch und Sau – mitunter auch Wolf und Luchs – auf kürzeste Weise von einem Tal in das andere zogen und den auch die dem Wilde nachstellenden Jäger nutzten. Wie alte Urkunden aussagen, kam den einstigen Landesherren der Wildreichtum dieser Gegend sehr gelegen, und sie haben oft hier verweilt, um zu jagen.
Mit der Zeit wird aus dem Wildwechsel ein Fußpfad entstanden sein, der sich – als dessen günstigen Verlauf auch die Fuhrleute erkannten – immer mehr zu einem wichtigen Verbindungsweg zwischen den beiden Tälern entwickelte und bei zunehmender Besiedlung unserer Landschaft stetig an Bedeutung gewann. Ja, so könnte es vielleicht gewesen sein.
Mit etwas körperlicher Anstrengung und zeitlichem Aufwand läßt sich diese einst für Offdilln und das obere Dilltal sehr wichtige Straße oder das, was die Zeit von ihr übrig ließ, auch heute noch begehen. Die gesamte Strecke, die durch Offdillner, Weidelbacher und Bergebersbacher Gelände führte, beträgt nach heutiger Messung beinahe sechs Kilometer, was nach dem damals hier gebräuchlichen Entfernungsmaß etwa 1220 Ruthen waren. Während einige Teile des alten Weges noch öfters genutzt werden, benötigt man den oberen und längeren Teil nur dann, wenn dort der Hauberg geschlagen wird. Und das ist so alle zwanzig Jahre der Fall. Wegen der geringen Benutzung ist daher an manchen Stellen die alte Trasse zugewachsen, was natürlich die Begehung nicht gerade begünstigt. Aber das war früher sicherlich nicht anders, denn bestimmt sind auch damals viele Wegstellen – gleich welcher Ursache – für Kirchgänger und sonstige Marschierer zeitweise unpassierbar gewesen. Man wird dann ganz einfach neben dem Fahrweg gegangen sein.
Seit wann dieser Weg den Offdillner Leuten als Kirchweg diente und ab wann ihr Ort zum Bergebersbacher Kirchspiel gehörte, ist nicht übermittelt. Wenn man aber die Einrichtung des Kirchspiels in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die etwa zur selben Zeit erfolgte Entstehung des Gerichts Ebersbach – erstmals urkundlich erwähnt im Jahre 1303 – zugrunde legt, kommt man ziemlich nahe an die gesuchte Zeit heran.
Und wenn dann noch die Urkunde vom 21. Mai 1343 beachtet wird, so kann dieser Zeitpunkt relativ sicher bestimmt werden. Nach dieser Urkunde versetzt Graf Heinrich von Nassau (um 1265-1343) seine Hörigen im Gericht Ebersbach an die Adligen von Bicken, wobei aber die von Dilln (aus Offdilln) ausgenommen werden.
Demnach hatten die Offdillner Leute – die Richtigkeit obiger Berechnung vorausgesetzt – schon rund fünf Jahrhunderte diesen Weg unter ihre Schuhe oder Stiefel genommen, denn so lange hatte ihr Dorf zum Bergebersbacher Kirchspiel gehört, ehe es in 1818 zusammen mit den Dörfern Nieder- und Oberroßbach zu dem neu geschaffenen Kirchensprengel Weidelbach kam. Allerdings war der neuen Regelung nur eine kurze Lebensdauer beschieden, denn noch im selben Jahr wurden diese Dörfer in das erweiterte Kirchspiel Oberroßbach integriert, zu dem jetzt auch die Ortschaften Dillbrecht und Fellerdilln gehörten.
Aber ausgedient hatte der alte Kirchweg damit noch lange nicht. Wenngleich auch der sonntägliche Kirchgang nach der alten Pfarrkirche nun Vergangenheit war; alle anderen Gründe für seine Benutzung blieben ja nach wie vor bestehen.
Die Herrschaft in unserm Gebiet hatten zur Zeit der Kirchspielsgründung die Adligen von Bicken vom Hain, die diesen nördlichsten Teil der Haigermark von den Herren von Molsberg als Lehen besaßen. Sie waren nicht nur die Gerichtsherren in Ebersbach, sondern sie gelten auch als die Stifter der Bergebersbacher Kirche und der dortigen Pfarrei, über die ihnen sowohl das Kirchenpatronat wie auch das Besetzungsrecht der Pfarrstelle zustand. Gerichts- und Kirchensprengel waren im Mittelalter fast immer identisch; am jeweiligen Gerichtsort befand sich auch der Sitz der Pfarrei. Das Ebersbacher Gericht war eines von den aus fränkischer Zeit stammenden Zehntgerichte, die in den einzelnen Gauen als Untergerichte der höheren Gaugerichte entstanden waren. Den Zehntgerichten – auch in Haiger befand sich eines – kam in der Regel die niedere Rechtsprechung zu, die sich hauptsächlich mit Rechtsstreitigkeiten bei Vermögensangelegenheiten befasste. Besetzt war so ein Gericht mit einem Schultheißen und zwölf Schöffen, die alle aus den einzelnen Dörfern des Gerichtsbezirks berufen wurden und in deren Händen die Urteilsfindung lag.
Wie man aus dem alten Ebersbacher Gerichtsbuch erfahren kann, hatte auch einst ein Mann aus Offdilln das Schultheißenamt bekleidet. Thewes (Matthäus) hieß er und war von 1469 bis 1482 nassauischer Schultheiß von dem besagten Gericht. Wie weiter zu lesen ist, hat er – und nach seinem Tode auch seine Kinder – immer in Offdilln gewohnt. Es ist daher ziemlich sicher, dass er zur Ausübung seines Dienstes im Ebersbacher Gericht besagten Weg regelmäßig unter seine Sohlen nehmen musste. Und hierbei hatte er Begleiter, denn für dieselbe Zeit werden auch zwei Männer aus Offdilln als Schöffen genannt: „item meisters Herman und Pypel heyntze, beide scheffen zu Eberspach“.
Besoldet wurde dieser Schultheiß jährlich mit 3 Malter Korn, 7 Malter Hafer und 4 blanken Gulden. Dazu muss man wissen, dass sowohl die Herren von Bicken als Besitzer des Ebersbacher Gerichts wie auch die Grafen von Nassau als Landesherren hier einen eignen Schultheißen hatten. Dass aus dieser Situation Konflikte entstanden, dürfte nicht weiter verwundern.
In jener Zeit lag der nassauische Oberamtmann Philipp von Bicken – diesen obersten gräflichen Beamten (seit 1423) nennt die Geschichte auch Philipp den Alten – mit seinen Dienstherren in einem erbitterten, verbalem Rechtsstreit, der von 1466 bis1486 dauerte. Bestimmt war damals der Offdillner Schultheiß Thewes um sein Amt nicht zu beneiden.
Wir wollen nun versuchen, den Verlauf des alten Kirchweg etwas näher zu beschreiben und auch die Begebenheiten betrachten, die sich einst beiderseits des Weges ereignet haben. Die ersten paar hundert Meter ab dem Dorfe verlief dieser nahezu genau so wie die heutige Straße nach Weidelbach. Zwei wichtige und sicherlich ebenfalls sehr alte Wege bogen auf dieser kurzen Strecke von ihm ab. Als erstes war es der frühere Weg zum genannten Nachbarort, der etwas oberhalb von Offdilln nach rechts vom Kirchweg abbog, das Dilltal durchquerte und anschließend diagonal den Flurteil „Hunberg“ passierte, dann an „Stengelstahl“ und „Bolzenberg“ vorbei, durch die Weidelbacher „Struth“ bis in das kleine Tälchen – das den Weidelbachern als „aale Weese“ (alte Wiesen) bekannt ist – verlief und von dort weiter zum Dorf führte.
Die Stelle, wo er seinerzeit die Dill durchfurtete – seit langem befindet sich dort schon eine Brücke – heißt auch heute noch „beim Wairelbäjjer Furt“ (Weidelbacher Furt). Früher, als der „Hunberg“ noch landwirtschaftlich genutzt wurde, war der alte Trassenverlauf von der anderen Talseite aus noch deutlich zu erkennen. Dieser Weg bestand übrigens bis zum Ende der Konsolidierung der Offdillner Feldflur im Jahre 1905. Als im November des genannten Jahres die neue Straße von Offdilln nach Weidelbach für den Verkehr freigegeben war, wurde er eingezogen und seine Trasse in dem neu vermessenen Ackerland integriert.
Auch unser Kirchweg musste nach einer kurzen Wegstrecke die Dill mittels Furt überwinden, denn es gab hier keine Brücke. Im Wiesengrund „vor der Hardt“ ging einst diese Furt durch die Dill, dicht dabei war ein hölzerner Fußgängersteg. Beide befanden sich etwa an der Stelle, wo bis vor zwei Jahren die in 1905 errichtete „Eiserne Brücke“ über den Bachlauf ging. Von besagtem Fußgängersteg rührt der heute noch gebräuchliche Flurname „Stäg“ her.
Unmittelbar vor dieser Furt bog linker Hand der zweite, früher ebenfalls sehr wichtige, Fahrweg ab. Er ging zwischen Felder und Wiesengrund das Dilltal hinauf bis zu den „Horchswiesen“, wo er sich gabelte. Hier wechselte der eine Teil nun durch die Dill auf die andere Talseite, zog durch den „Junkernwald“ hinauf und an der anderen Seite das „Fischbachtal“ hinab bis nach Rittershausen. Die Stelle, an der man einst die Dill durchquerte hat ebenfalls einen uralten Namen – „beim Roirersche Furt“ (beim Rittershäuser Furt) heißt sie heute noch im Volksmund.
Die andere Strecke – als „Steinerne Gasse“ bezeichnet sie eine Forstkarte von 1756 – ging auf kürzestem Weg hinauf zur „Bärelbuche“ (Bettelbuche) und mündete hier in den ins Siegerland führenden „Butterweg“. Alle genannten Wege sind auch heute noch – zumindest teilweise – als Waldoder Feldwege benutzbar.
Wir wollen nun den alten Kirchweg weiter beschreiten, der ab der Furt am „Stäg“ stetig bergan führte und sicherlich stellenweise recht beschwerlich zu passieren war. Eng an die „Hardt“ geschmiegt, deren Südhang hier steil aus dem Wiesengrund aufsteigt, lief er ein enges Tälchen hinauf. Parallel zum Weg zog sich am unteren Teil des Hanges die alte Viehtrift entlang, auf der sich infolge von jahrhundertelanger Beweidung eine besondere Flora entwickelt hatte, die man noch bis in die 1960er Jahre bewundern konnte.
Überall standen Wacholderbüsche, und Anfang August, wenn das Heidekraut blühte, war der ganze Hang ein einziges rot-lila Blütenmeer. Am Fuß des Berges, unmittelbar am Kirchweg, wuchs die Arnika. Durch alles zogen sich, gleich einem riesigen Netzwerk, die in , vielen Jahren regelrecht in den Boden eingestanzten Trampelpfade der Kühe. Längst ist diese einstige Herrlichkeit Legende Die Viehherde ist aus Dorf und Hauberg verschwunden, und seit vierzig Jahren wächst hier ein mittelprächtiger Fichtenwald, der auf bessere Zeiten wartet.
„Kehrgrund“ heißt das schmale Tälchen, das bergwärts immer mehr zu einer Schlucht wird, an dessen linker Seite nun der Weg entlang geht. Der gegenüberliegende Berg, die „Langhell“, war früher einer von vier herrschaftlichen Lehnshaubergen, die die Gemeinde Offdilln vom Nassauischen Fürstenhause in Erbpacht hatte. Wie aus einem Bericht des Heimbergers Johann Hofmann aus dem Jahre 1727 hervorgeht, mußte dafür die Gemeinde jährlich 6 Gulden und 27 Albus an Zins zahlen. Außerdem war bei der Behainung dieser Lehen noch jede sechste Garbe Frucht als Medumsabgabe fällig. Später wurde statt der Naturalabgabe ein fester Geldbetrag erhoben, der Anfang des 19. Jahrhunderts 9 Gulden und 27 Albus betrug. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Ablösung der Erblehen erfolgte, hat die Gemeinde diese Hauberge käuflich erworben.
Überall an diesem Berg haben sie nach Erzen gesucht, wie es uns Pingen, verlassene Stollen und eingefallene Schächte heute noch bezeugen. Die Namen von drei hier betriebenen Gruben sind uns bekannt. Da ist einmal die Grube „Heinrichsglück“, deren zwei Stollen an der südwestlichen Bergseite lagen. Einer davon ist um die 300 Meter lang, was früher etwa 150 Lachter entsprach. Bis in das 20. Jahrhundert hinein ist diese Grube, mit zum Teil längeren Unterbrechungen, betrieben worden, immer in der Hoffnung auf Bergmannsglück.
An einem recht steilen Hang gegenüber dem Kirchweg lag die Grube „Johannesberg“. Schon um 1803 wurde hier die unrentabel gewordene Arbeit eingestellt und die Suche nach Erz aufgegeben. Ihre zwei Förderschächte sind eingefallen, und das Stollenmundloch ist seit einigen Jahren zugemauert. Nur die Fledermäuse können durch eine kleine Öffnung noch ein- und ausfliegen.
Das dritte Erzbergwerk war die Grube „Eckenbach“, benannt nach dem hier vorbeifließenden kleinen Bachlauf. Unmittelbar am genannten Bach und nicht allzuweit vom Kirchweg entfernt, befand sich ihr nun längst eingefallener Stolleneingang. In allen drei Gruben hat man hauptsächlich nach Kupfer und Blei gegraben, aber keine davon hat ihren Betreibern den erhofften Erfolg beschert.
Ganz in der Nähe der letztgenannten Grube sprudelte ein Haubergsbörnchen, im Volksmund „Asperburn“ (Espenbrunnen) genannt, auf dessen Funktionieren man früher tunlichst achtete. Wie viele Kirchgänger, Fuhrleute und Haubergsbauern mögen sich im Laufe der Jahrhunderte wohl an dieser Quelle gelabt haben?
Wie umfangreich einst die auf beiden Seiten des „aale Wägs“ getätigten Arbeiten waren, erfährt allerdings nur derjenige, der sich der Mühe unterzieht und das umliegende Gelände nach alten Wirkungsstätten absucht. Dabei wird er, außer den schon genannten Gruben, noch auf manche Spuren stoßen, die fleißige Menschen dort im Haubergsboden hinterlassen haben. So sind auch die Reste von rund vierzig alten Meilerplätzen – „Koolnkaute“ nennt man sie im Haubergsland – anhand ihrer typischen Abflachung klar zu erkennen, auf denen früher die Offdillner Köhler ihre Holzkohlen brannten.
Oberstudiendirektor Emil Becker, Wiesbaden, hat einst Folgendes über das Wirken der Offdillner Kohlenbrenner – von denen ja ganz offensichtlich diese Überbleibsel stammen – festgestellt:
„Neben Rittershausen ist Offdilln seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts der hauptsächliche Kohlenlieferant für die Hüttenwerke des Dietzhölztales. In den Dillenburger Rentei- und mehr noch in den Kellereirechnungen der Jahre 1465 bis 1500 werden etwa 15 bis 20 Offdillner Einwohner aufgeführt, die regelmäßig von ihnen erzeugte Kohlen an die Hütten angeliefert haben. Wir lassen die Namen dieser alten Offdillner Kohlenbrenner, ohne die das starke Emporblühen der Dietzhölztaler Eisenindustrie in so früher Zeit unmöglich gewesen wäre, hier folgen:
Schlosserhenne Hermann, Heidrich, Helwig, Contzen Hannes, Langhenne, Langhennen Sohn, Matijs, Hartmannshenne, Scheffers Hermann, Henne Heidrichs Sohn, Der Hartmenschen eydam (Eidam), Steinheinz, meister Hermann von Uffdillen, Wygeln Ruppen son, Heidrichs von Dilln, Endress, Thebus von Uffdilln“.
Sicherlich haben diese Männer einen großen Teil ihrer Holzkohlen unmittelbar hier am Kirchweg gebrannt und sie anschließend mit ihren Ochsenfuhrwerken nach der um 1440 bei Ebersbach gegründete Neuhütte verfrachtet.
An vier sich nahe am alten Weg befindenden Verhüttungsstellen wurde im Mittelalter Eisen geschmolzen, wie uns die noch im Umfeld vorhandenen Schlackenreste kundtun. Vielleicht haben diese Schmelzöfen noch geraucht, als die Gottesdienstbesucher des 14. und 15. Jahrhunderts hier vorüberzogen. Bei dem einen Standort – unmittelbar an der zuletzt genannten Grube – ist noch der Platz zu erkennen, an dem einst das Eisenerz geröstet und gepocht wurde. Wie dort klar zu erkennen ist, hat man hier sowohl Spat- wie auch Roteisenstein verhüttet; letzterer ist vermutlich vom Schelderwald nach hier gekarrt worden.
Im oberen Bereich des Tales, dort, wo es ringsum von Haubergen umkränzt in einem kleinen Kessel endet, durchlief der Kirchweg eine „Viehschläfe“. Hier ruhte der Hirte mit seiner Herde zur Mittagszeit, und hierher brachten dann die Dorfleute das Vieh, welches sie am Vormittag bei der bäuerlichen Arbeit benötigt hatten.
Das durch die Mittagsrast bedingte längere Verbleiben der Herde auf der Schläfe führte unausweichlich zu einer intensiveren Beweidung dieses Platzes. Die Tiere verblieben meist an einer Stelle und hielten während dieser Zeit nicht nur den hier vorhandenen Grasbewuchs, sondern auch die Laubbäume kurz. Diese waren im Laufe der Jahre fast gänzlich verschwunden und hatten ihren Platz den vom Vieh verschmähten Wacholderbüschen überlassen. Auch einige, heute sehr seltene, Pflanzenarten konnte man hier blühen sehen. In dem unteren Bereich des Platzes, dort, wo das Bruch anfängt und das Gelände von tiefen Wassergräben durchzogen wird, duftete im zeitigen Frühjahr an vielen Stellen der Seidelbast, und die weissgrünen Glöckchen der Märzbecher konnte man schon von weitem leuchten sehen. Dazwischen strahlten dann – gleich goldenen Sternen die Blüten des Scharbockkrautes. Heute ist diese einstige Viehschläfe mit Nadelholz bepflanzt.
Durch das „Eckewäldche“ geht der Weg nun hinauf bis zum „Oarns Stroch“, mit 535 Meter die höchste Erhebung im unmittelbaren Verlauf des Kirchweges. Gemeint ist mit dieser Bezeichnung ein markanter, direkt an der Offdilln/Weidelbacher Gemarkungsgrenze stehender Ahornstrauch. Die Bezeichnung „Oarns Stroch“ für diese Stelle muss schon seit langer Zeit existieren, denn auf einer Urkunde, die anlässlich einer gemeinsamen Grenzbegehung mit Weidelbach vor 200 Jahren entstand, wird der Ort schon so bezeichnet. Tief ist noch immer die Weghohle dieses letzten, steilen Stückes vor Erreichen der Höhe in das Erdreich eingegraben, obwohl es seit über hundert Jahren von keinem Ochsengespann mehr befahren wurde. Und wenn man sich die Ausweichstellen ansieht, an denen die Wagen in dem engen Hohlweg aneinander vorbei konnten – alle sind genau so tief ausgefahren wie der Hauptweg – bekommt man eine Ahnung von den Schwierigkeiten der damaligen Fuhrleute.
Wie bereits zu lesen war, bestand ihre Fracht überwiegend aus selbstgebrannter Holzkohle, die sie entweder zu der Neuhütte oder dem Steinbrücker Hammer brachten, denn an diese beiden Eisenwerke waren die Offdillner Haubergsleute gebannt Später kam noch die Eibelshäuser Hütte hinzu. In eigens für den Kohlentransport konzipierten zweirädrigen Karren mit hoher Ladefläche wurde die Ware transportiert. Und diese randvoll beladenen Karren hatten es in sich. Zwei Fuder oder 10 Zain – beides sind alte Erz- und Kohlenmaße, die aber je nach Region leicht unterschiedlich waren – fasste so ein Wagen. Umgerechnet auf unser heutiges System wären das etwa 6 m³ oder 1,3 Tonnen. Obwohl die Wagen von zwei Fahrochsen gezogen wurden, musste an den ganz steilen Stellen „vorgespannt“ werden. Das heißt, es wurden noch zusätzliche Zugtiere eingesetzt, was hier am Kirchweg durch einen weiteren Ochsen geschah.
Meistens wurde das Führen des vorgespannten Ochsen von den älteren Dorfkindern getätigt. Vorrang „genossen“ hierbei die im Ort lebenden Waisenkinder, lagen sie doch nach landläufiger Meinung sowieso der Gemeinde auf der Tasche – Grund genug für eine entsprechende Gegenleistung. Das sei damals auch die Ansicht der Offdillner Dorfleute gewesen, so erzählte es uns der Großvater meines Freundes, als wir noch „Schuljonge“ waren. Er war seinerzeit als Waise selbst davon betroffen gewesen und hat diese Arbeit am besagten Weg noch hautnah – in des Wortes wahrster Bedeutung – miterlebt, als er selbst noch zur Schule ging.
Ferdnands Adolf – so war der Dorfname – hatte schon früh beide Elternteile verloren. Zuletzt war sein aus Offdilln stammender Vater in Eiershausen, wo er als Schulmeister tätig gewesen war, verstorben. Der Adolf wurde nun hier im Ort von einer älteren, alleinstehenden Verwandten versorgt und großgezogen; und außerdem von allen möglichen Dorfbewohnern zu allen möglichen Arbeiten herangezogen. Hierzu gehörte auch die besagte Vorspannarbeit. Zusammen mit ihm war ein etwa gleichaltriges Mädchen – ebenfalls Waise – von dieser Tätigkeit betroffen.
Lange vor Tagesgrauen war Arbeitsbeginn, und da der Holzkohlentransport immer im Konvoi ablief, kamen die beiden mit dem Vorspannen fast nicht nach. Weil aber manchen der vor dem Steilstück wartenden Fuhrleute die Ungeduld plagte, wenn die Kinder mit ihren Vorspannochsen nicht schnell genug herbeikamen, wurden die beiden nicht nur mit derben Worten bedacht, sondern sie machten auch allzu oft Bekanntschaft mit den Fuhrmannspeitschen. So mussten die zwei viele Male das „Eckewäldchen“ hinauf und hinab hetzen, ehe die letzte Fuhre oben angelangt war. Wäre der letzte Karren dann in Richtung Ebersbach verschwunden – so erzählte der Großvater weiter –
hätten das Mädchen und er sich erst einmal an den Wegrand gesetzt und gemeinschaftlich bitterlich geweint. Dann ging es auf dem schnellsten Weg zurück ins Dorf, denn es war Schulbeginn. Wenn sie den verpassten, was durch ihre frühmorgendliche Tätigkeit des Öfteren der Fall war, begann nämlich der Schulmeister dort, wo die Fuhrleute aufgehört hatten – die beiden bekamen erneut Prügel. Es ist jetzt über fünf Jahrzehnte her, als besagter Großvater – längst ist er verstorben – uns von diesen schlimmen Ereignissen berichtete, die er etwa um1885 selbst erleben musste. Leider ist mir der Name des Mädchens nicht mehr im Gedächtnis, und auch meinem einstigen Schulfreund ist er entfallen.
Das „Eckewäldchen“, in dem sich das alles zugetragen hat, gehörte einst zum herrschaftlichen Besitz. In einer Urkunde von 1565 wird es so beschrieben: „Das Eggenwäldgen (liegt) zwischen Ebersbach und Uffdilln, darin (ist) kein guth Bawholz, hat nur Eichen Stöck“. Anscheinend war vormals mit dem Holz vom „Eckewäldchen“ Raubbau betrieben worden. In 1637 kam das Wäldchen durch einen recht fragwürdigen Geländetausch zwischen der Gemeinde Offdilln und dem nassauischen Grafen Ludwig Henrich …. daß Wir Ihr der Gemeinden vor Erst, alles was auff beyden seithen Unsers Hochgewälts gelegen ist, biß an Kirchweg und an Ebersbächer Steyg, befindlich…. zum Offdillner Hauberg.
War das steile Wegstück durch das „Eckewäldchen“ geschafft und der „Oarns-Stroch“ in Sicht, so hatte man nicht nur den höchsten Punkt dieser Strecke erreicht, sondern auch die Grenze zwischen Offdilln und Weidelbach. Dieser Übergang von der einen in die andere Gemarkung – man kann ihn durchaus als Pass bezeichnen – liegt sattelartig zwischen der höchsten Erhebung der Dillberge und dem 566 Meter hohen Huberg. Unmittelbar bei diesem Ahornstrauch kreuzte der Kirchweg einen uralten Höhenweg, der von Dillenburg her zuerst die „Struth“, dann das „Weidefeld“ und den „Barmberg“ durchzog, danach als Grenzweg zwischen Offdilln und Rittershausen weiterging, um schließlich über die Haincher Höhe nach Siegen zu führen. Streckenweise war dieser Weg identisch mit dem späteren – auch heute noch so bezeichneten – Herzogsweg.
Der Blick von hier oben bei abgetriebenem Hauberg ist atemberaubend. Zum Greifen nahe liegt der steil aus dem Burbachtal aufsteigende 572 Meter hohe Hausberg vor einem. Hoheitlich gehört er je zur Hälfte zum Bergebersbacher und Rittershäuser Hauberg. Nach Osten fällt der Blick auf das Gladenbacher Bergland und den nördlichen Teil des Schelderwaldes. Wendet man den Blick zurück, dann grüßen in süd- und westlicher Richtung Bolzenberg und das Dilltal und am Horizont Kalteiche, Westerwald und die Feste Greifenstein. Und diese Aussicht hatten auch unsere Altvorderen. In den Jahren, wenn hier oben der Hauberg abgetrieben und die Sicht frei war, werden sie sicherlich von hier oben beim sonntäglichen Kirchgang
voll Bewunderung auf ihre schöne Heimat geschaut haben, genauso wie es manche ihrer Nachfahren auch heute noch tun, die während einer Wanderung hier verweilen und die Aussicht genießen. Nur dass es nicht mehr anlässlich eines Gottesdienstbesuches geschieht. Eigentlich recht schade!
Nach dem teilweise steilen Anstieg hinauf zum „Oarns Stroch“ ging es nun auf der anderen Seite über Weidelbacher Gebiet zunächst stetig bergab. Auch an diesem Haubergshang ist die Weghohle noch derart tief, dass die Weidelbacher Jäger vor einigen Jahren einen stabilen hölzernen Steg darüber
bauten, um zum Ansitz zu gelangen. Am „Zwieselbach“ vorbei verlief nun der alte Kirchweg – immer noch durch Weidelbacher Haubergsland – hinunter zu den im Burbachtal liegenden Bergebersbacher Wiesen und erreichte, nachdem der im unteren Talbereich zur rechten Hand liegende „Gillershain“ passiert war, die „Kirchhecke“. Diese etwa 104 Morgen (41,5 ha) große Pfarr- oder Kirchhecke ist seit altersher Kirchengut, dessen Erträge bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Besoldung des ersten Pfarrers von der Berger Kirche gehörten. Unmittelbar vor der „Kirchhecke“ verließen die Fuhrleute mit ihren Kohlenkarren den bis dahin am rechten Talrand verlaufenden Kirchweg, wechselten hinüber auf die linke Talseite und erreichten – weiterhin das Burbachtal hinab fahrend – bald danach die Neuhütte.
Der Kirchweg zog sich weiter am rechten Hang entlang und gelangte nach einiger Zeit, im Bereich des heutigen „Malerhäuschens“, zur Bergebersbacher Feldgemarkung „Krämers Hecke“ und damit auf die letzte, kleinere Anhöhe, ehe es hinab zum Dorf und zur Kirche ging.
Von dieser Anhöhe konnte der Betrachter ein großartiges Panorama bestaunen. Unter ihm lag ausgebreitet das Dietzhölztal, rings umgeben von den einzelnen Haubergshöhen, aus dessen mittlerem Bereich der nahe bei Roth stehende 518 Meter hohe „Heilige Berg“ – Schloßberg heißt er auf dem Roth – unwillkürlich ins Auge fiel. Und das hatte, ganz abgesehen von dessen imposanter Erscheinung, seinen besonderen Grund. Denn nicht nur die landschaftlichen Schönheiten gab es im Mittelalter von hier oben zu bewundern,
sondern allzu oft wurde auch Bedrohliches ersichtlich. Und dazu gehörte damals der Rother Schloßberg, auf dem in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die beiden hessischen Landgrafen Otto und Heinrich die Burg „Hessenwald“ errichtet hatten. Es muss eine stattliche Festung gewesen sein, die den Offdillner Kirchgängern des 14. und 15. Jahrhunderts jeden Sonntag in ihr Blickfeld geriet und die sie vielleicht voll Ehrfurcht von hier oben bestaunten. Gerichtet war sie allerdings gegen ihre Landesherren, die Nassauer Grafen und damit auch gegen die im Umkreis liegenden Dörfer. Zwar waren die damaligen Lehnsherren vom hiesigen Gericht und Kirchspiel, die Adligen von Bicken vom Hain, recht eng mit den hessischen Landgrafen verbunden, aber trauen konnte man – diese Erfahrung hatten die Haubergsleute schon öfters machen müssen – keinem von ihnen.
In der gleichen Blickrichtung wie der „Schlossberg“ lag seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert auch eine andere Einrichtung, bei dessen Anblick wohl manchem ein kalter Schauer über den krummen Rücken lief. „Auf dem Staache“ – gemeint ist damit das neben dem „Sasenberg“ liegende „Steinchen“ mit seiner steil ins Dietzhölztal abfallenden Nordseite – war in jener Zeit ein weithin sichtbarer Galgen errichtet worden. Der wird wohl manches Mal den ihm zugedachten Zweck erfüllt haben, so dass die Leute von dem makaberen Anblick eines Gehängten samt den um diesen herum flatternden Galgenvögeln nicht verschont geblieben sind.
Nach Aussage von Zeitzeugen im Jahre 1466, wozu auch der 105-jährige Hermann Doringk aus Oberroßbach sowie „Helwich, Rope heyntze, Horrichs Heynrich, alle wohnhaftigh zu Uffdillen“ gehörten, hat hier sogar ein Bickenscher Schultheiß mit des Seilers Tochter Hochzeit feiern müssen. Unter Graf Johann II. – der mit der Haube (1416-1443) – habe man den Schultheiß vom Tische weggeholt und kurzerhand am Galgen aufgehängt, heißt es in der Zeugenaussage. Leider wird dieser Mann nicht mit Namen genannt. Wahrlich keine allzu erfreulichen Ereignisse.
• • • • • Kirchweg und Weg zur Neuhütte, Weg nach Weidelbach,
x x x x x Wege nach Rittershausen und ins Siegerland, ▬▬ Die Dill.
War die Benutzung des Kirchwegs schon bei normaler Wetterlage keine leichte Sache, so geriet sie zur Winterzeit infolge von Matsch, Schlamm und mitunter extremen Schneeverhältnissen zu einer Strapaze. Und das bekamen um 1582 erstmals auch die Kinder zu spüren, denn Folgendes hatte sich zugetragen:
Während der Regierungszeit des umsichtigen Grafen Johann VI. (1559-1606) waren in der nassauischen Grafschaft gegen Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Schulen, sogenannte Kirchspielschulen, eingerichtet worden. Auch Bergebersbach erhielt um 1582 eine, in der zunächst der Glöckner den Unterricht erteilte. Er schien aber der Sache nicht gewachsen zu sein, denn schon nach kurzer Zeit erfolgte seine Ablösung durch einen Prediger, der außerdem auch zum Predigtdienst in den Kapellen des Kirchspiels eingesetzt wurde. Daraus entwickelte sich dann eine dauerhafte 2. Pfarrstelle, deren Inhaber auch die Offdillner kirchlich zu betreuen hatte.
In dieser Schule sollten sich nun die Kinder aus den zehn Dörfern des Bergebersbacher Kirchspiels zum Unterricht einfinden – auch die von Offdilln – was für diese einen Fußmarsch von gut drei Stunden bedeutete, inklusive Rückweg. Und das alles zur kalten Jahreszeit, denn unterrichtet wurde nur im Winter. Anfangs von Martini bis Ostern, später von Oktober bis Mai.
Dass diese Maßnahme keine allzu große Begeisterung bei den Untertanen auslöste, am allerwenigsten bei den Kindern und deren Eltern, läßt sich problemlos nachvollziehen. Dementsprechend wird dann auch der Schulbesuch gewesen sein, denn eine allgemeine Schulpflicht gab es damals noch nicht.
Die Pfarrkirche von Bergebersbach war das Zentrum des Kirchspiels. Hier versammelten sich an Sonn- und Feiertagen die Leute aus den anliegenden Dörfern zum Gottesdienst, wobei jede Gemeinde ihre eigenen Sitzreihen hatte. Auf dem großen, dicht neben dem Gotteshaus liegenden, Kirchhof wurden auch alle im Kirchspiel Verstorbenen bestattet, was sicherlich – ganz abgesehen von der Trauer – zu Problemen führte. Man muss sich nur einen Leichentransport von Offdilln zum Bergebersbacher Kirchhof im Hochsommer vorzustellen, dann bekommt man eine Ahnung von den mit einer solchen Beerdigung verbundenen Schwierigkeiten. Auch die im Kirchspiel geborenen Kinder wurden über einen langen Zeitraum zur Taufe nach der Berger Kirche gebracht. Hier gaben sich auch alle Heiratswilligen aus den Dörfern das Ehegelöbnis und erhielten den kirchlichen Segen. Um 1700 fanden bezüglich von Taufe und Beerdigung Veränderungen statt, denn nun bekam jedes Kirchspieldorf seinen eigenen Totenhof, und getauft wurde in den Kapellen der jeweiligen Dörfer.
Die Gottesdienste in dieser Kirche wurden damals sehr gut besucht, was vermutlich nicht allein an der strengen Anweisung der Landesherrschaft zum Kirchenbesuch lag. Die Menschen jener Zeit hielten sich ganz einfach an Gottes Gebot, nach dem der Feiertag geheiligt werden soll, und sie hatten auch ein großes Bedürfnis nach der sonntäglichen Predigt – beides Tugenden, die heute den meisten Leuten abhanden gekommen sind.
Doch damals machte sich jeder, der noch einigermaßen laufen konnte, auf den Weg zum Gottesdienst. Hierzu benötigte man – wie wir schon gelesen haben – von Offdilln bis zur Berger Kirche etwa anderthalb Stunden, genau so viel Zeit nahm auch der Rückweg in Anspruch. Jahrhundertelang drei Stunden Wegzeit für eine Predigt – unvorstellbar in der heutigen Zeit – die man aber seinerzeit gerne einsetzte. Wie viele Offdillner Kirchgänger mögen es wohl in all den Jahren gewesen sein, die von Gram, Leid und Sorgen erfüllt über den alten Kirchweg zu der Kirche kamen und sich dann durch Gottes Wort getröstet, gestärkt und mit neuem Mut erfüllt auf den Heimweg begaben?
So ein Kirchenbesuch bot auch noch andere Aspekte, die nach einer harten Arbeitswoche für willkommene Abwechslung sorgten. Verwandte, Freunde, Bekannte und viele andere Leute aus den umliegenden Kirchspielorten konnte man hier begrüßen und manche zarten Bande, die oft zur Ehe führten, wurden hier geknüpft. Wie man von den Alten weiß – die das ihnen Erzählte weitergaben – ist es damals üblich gewesen, dass man schon lange vor Kirchenbeginn hier zusammenkam, sich um die Kirche herum lagerte, miteinander redete und beobachten konnte, wie rings von den Höhen und aus den Tälern die Nachzügler aus den verschiedenen Dörfern zum Gottesdienst eilten.
Eine Sage erzählt, dass früher die Glocken erst geläutet wurden, wenn man vom Kirchturm aus die Oberroßbacher Eisenschmelzer in ihren weißen Kitteln von der Weidelbacher Höhe herunter kommen sah.
Wie die Alten weiter zu berichten wussten, ist einst auch großes Unheil über diesen Kirchweg in ihr Dorf gekommen. Jost Horch, ein Offdillner Bauer, hatte im Sommer des Jahres 1597 in Bergebersbach zuerst den Gottesdienst und danach seine nach dort verheiratete Schwester besucht. Da seine kleine Nichte schwer erkrankt war, hielt er sich nicht lange bei seinen Verwandten auf, sondern begab sich beizeiten auf den Heimweg.
Beim Verlassen des Dorfes teilte ihm eine alte Frau hinter vorgehaltener Hand mit, das in Ebersbach vermutlich die Pest ausgebrochen sei. Schnellen Schrittes eilte er nach Hause – und die Pest eilte mit. So soll mit ihm über den Kirchweg der schwarze Tod auch nach Offdilln gekommen sein, dem hier im Laufe besagten Jahres 62 Personen zum Opfer fielen – beinahe die Hälfte der damaligen Dorfleute. Unter den Toten war auch Jost Horch und drei seiner vier Kinder. In dem schlimmen Pestjahr 1597 starben im gesamten Bergebersbacher Kirchspiel 524 Menschen an der tödlichen Seuche. Nur ganz wenige Ortschaften blieben damals von der Pest verschont, eine davon war Oberroßbach. Dieses Dorf war von seinen Bewohnern nach außen hin hermetisch abgeriegelt worden und dadurch von der Pest verschont geblieben. Ob auch alle an der Pest Verstorbenen ihre letzte Ruhe auf dem Kirchhof in Bergebersbach fanden, ist nicht überliefert.
Anfangs des 20. Jahrhunderts hatte der „aale Wäg“ als Verbindungsstraße ausgedient. Denn an der anderen Talseite des „Kehrgrundes“ – dem alten Kirchweg genau gegenüber – wurde in 1903 ein neuer Weg mit stabilem Untergrund nach Ebersbach angelegt, der viel besser zu befahren war. Er führt auch nicht mehr ins Burbachtal hinab, sondern verläuft hinter dem Weidelbacher „Barmberg“ durch die „Lehnseite“, und mündet an der schon erwähnten „Krämers Hecke“ in die Landstraße nach Ebersbach. Auch dieser Weg erhielt von den Offdillner Leuten einen eigenen Namen. Als Gegensatz zu dem jahrhundertealten „aale Wäg“ wird er seit Anbeginn – wie könnte es auch anders sein – „dr naue Wäg“ genannt.
Harro Schäfer
Quellen:
Emil Becker, Beiträge zur Geschichte des oberen Dietzhölztales Ebersbacher Gerichtsbuch
Karl Nebe, Die Kirchlichen Verhältnisse zu Ebersbach vor der Reformation
Karl Nebe, Das nassauische Hochgericht „auf dem Steine“
Karl Nebe, Die Gründung der Schulen im Gericht Ebersbach
H. Schäfer, Geschichtliches vom Land an Dill und Roßbach
Dank an Herrn Henne von der Dietzhölztaler Gemeindeverwaltung für die Zustellung von Bildmaterial